Vorsorge

     

„Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Beziehung.

Virginia Satir                                                                                        

 

Essstörungen werden von den tiefenpsychologisch orientierten Autoren wie folgt erklärt: eine Regression = Zurückfallen in ein früheres seelisches Entwicklungsstadium mit dem Ziel sexuelle Entwicklungsschritte zu vermeiden.

Ein Mädchen, das absichtlich Essen verweigert und nach schlanker Figur strebt, will diese natürliche Entwicklungsprozesse vermeiden und hat Schwierigkeiten, ihre weibliche Geschlechtsrolle anzunehmen. Die Entwicklung vom Mädchen zur Frau findet in der Pubertät mit starken körperlichen Veränderungen und einer erwachenden Sexualität statt. Durch die starke Gewichtsreduktion treten die typisch weiblichen Merkmale in Hintergrund und die jungen Frauen müssen sich nicht mehr mit ihrer sexuellen Rolle auseinandersetzen.

Es besteht die Notwendigkeit sich von der Mutter als weiblichem Vorbild abzugrenzen. Viele Autoren sprechen über die Abkehr von einer dominanten Mutter sowie eine Belastung durch eine ödipale Konstellation mit dem Vater. Das ist zum Teil eine Erklärung für die Entstehung der Erkrankung, aber es ist nicht ausreichend. Denn viele andere Faktoren mitverantwortlich sind.

Die ersten sechs Lebensjahre eines Kindes bestimmen sein zukünftiges Leben. Essen ist das erste wichtige Kommunikationsmittel, welches das Kind zur Verfügung hat, um den Kontakt zu seiner Umwelt aufzunehmen. Sowie ein Kind isst, nimmt es den Kontakt zu seiner Umwelt auf. Studien belegen, dass Essgestörte früher entweder zu wenig oder zu viel zu essen bekamen. Aber keiner davon wurde „normal“ versorgt. Mit Versorgung meine ich nicht nur im engsten Sinne das Essen, sondern die emotionale Versorgung (Anerkennung, Aufmerksamkeit und Liebe).

Es ist leider in der heutigen westlichen Gesellschaft in  unserer Erziehung die Fähigkeit Gefühle „angemessen“ auszudrücken und zu zeigen, verloren gegangen. Liebe hat immer zu wenig Platz und viele Kinder haben erfahren, Liebe geht oft durch den Magen. Kinder lernen häufig ein Belohnung- und Bestrafungssystem zu  erkennen, das mit dem Essen zu verkoppeln ist. Sind sie brav, bekommen sie ein Eis. Tun sie etwas Falsches, müssen sie darauf verzichten. Wenn sie weinen oder unruhig sind, werden sie von ihren Eltern durch Essen beruhigt und zum Schweigen gebracht.

In diesem Verhalten ist eine gefährliche Botschaft versteckt. Das Kind verlernt schlechte Gefühle zu fühlen und sie auszuhalten. Es lernt, etwas zu kompensieren und die Kompensation geschieht durch das Essen. Das typische Beispiel ist ein Mensch mit dem Binge Eating, der ohne Hunger  oder aus Langweile isst, um seine Leere zu füllen. Die Leere ist in der Wirklichkeit der emotionale Hunger. Seine Sehnsucht  und Hunger nach Anerkennung und Liebe werden durch Essen unbewusst gesättigt.

Vorsorge beginnt schon in der früheren Kindheit, wenn wir  den Kindern den Raum geben, alle Gefühle zu fühlen und sich mit den schlechten Gefühlen auch auseinanderzusetzen, ohne dass sie etwas kompensieren müssen. Liebe, Wärme und Achtsamkeit sind leider  in unserer  Leistungsgesellschaft fremd geworden. Jeder Mensch braucht es und möchte sich verstanden, angenommen und geliebt zu fühlen, sowie er ist und nicht wie er sein sollte um besser zu sein.